von Eugen Zentner
Der Massel-Verlag aus München setzt dem Great Reset des Weltwirtschaftsforums ein We, ein Wir, entgegen. Die Buchreihe The Great WeSet widmet sich der wachsenden Gegenöffentlichkeit, die sich in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens formiert. Im dritten Band stellt Eugen Zentner Alternativen im Kunst- und Kulturbetrieb vor. Sein Buch beleuchtet Kunst- und Kulturszenen, die sich dem Mainstream widersetzen und neue Wege gehen.
Am 16. März begrüßen wir den Journalisten und Autor Eugen Zentner zu einer Lesung in Heidelberg. Hier vorab die Einleitung zu seinem Buch – mit freundlicher Genehmigung des Autors.
In Krisenzeiten sollte die Kunst- und Kulturbranche eigentlich auf die Missstände hinweisen. Sie sollte den Finger in die Wunde legen, der Gesellschaft den Spiegel vorhalten und mit Kassandrarufen vor einer Fehlentwicklung warnen. Sie sollte aufbegehren und anklagen, aber nach Lösungen suchen und Utopien entwerfen. Der Wirkungskreis von Künstlern ist groß, sie müssen ihn nur nutzen. Dass sie das während der Corona-Krise tun würden, darauf hofften viele Menschen lange vergebens. Wer die Maßnahmen-Politik seit März 2020 als zu hart und unverhältnismäßig ansah, ersehnte ein gewaltiges Echo aus der Kulturbranche. Schließlich war sie von den Einschränkungen selbst betroffen. Nahezu alle Einrichtungen mussten von einem Tag auf den anderen schließen. Ganze Tourneen wurden abgesagt.
Wer in einer Kulturstätte festangestellt war, erhielt immerhin Anspruch auf Kurzarbeitergeld. Freiberufliche Künstler hingegen mussten ums Überleben kämpfen und nach Wegen suchen, wie sie ihren Lebensunterhalt sichern konnten. Für sie kamen die Einschränkungen einem Berufsverbot gleich. Angesichts dieser misslichen Lage wurde erwartet, dass die Kunstwelt ein lautes Signal senden würde. Anstatt ihre Stimme aber zu erheben, blieben die meisten Künstler still. Anstatt die Regierung dafür zu kritisieren, dass die Grundrechte außer Kraft gesetzt worden waren, redeten sie ihr nach dem Mund. Sie ließen sich für Werbekampagnen einspannen, halfen mit bei der Diffamierung von Maßnahmenkritikern oder versuchten, ihre Karriere durch konformes Verhalten anzukurbeln. Andere gingen in die innere Emigration. Sie schwiegen und tauchten ab, um die Krisenzeit möglichst unbeschadet zu überstehen.
Wer durchblicken ließ, mit der Maßnahmen-Politik nicht einverstanden zu sein, wurde medial zerrieben – selbst wenn die Kritik zaghaft und in Andeutungen daherkam. An ihnen klebten sofort Etikette wie „Corona-Leugner“, „Verschwörungstheoretiker“, „Querdenker“ oder „Schwurbler“. Vielen etablierten Künstlern dürfte zu jenem Zeitpunkt bewusst geworden sein, dass sie nur im Kollektiv aufbegehren konnten. So schlossen sich relativ spät 53 namhafte Schauspieler und Filmschafende aus Deutschland zusammen, um mit der Aktion #allesdichtmachen ein Zeichen zu setzen. Unter den Teilnehmern befanden sich Jan Josef Liefers, Heike Makatsch, Wotan Wilke Möhring, Meret Becker, Ulrich Tukur und Nadja Uhl. Es war die Crème de la Crème der hiesigen Schauspiel-Szene, die in Einzelvideos auf ironische und sarkastische Weise die Corona-Politik genauso hinterfragten, wie die an sie gebundene Diskussionskultur.

#allesdichtmachen weckte in der Bevölkerung große Hoffnungen. Endlich trauten sich berühmte Künstler, ihre Stimme gegen Ungerechtigkeit und undemokratische Maßnahmen zu erheben. Doch die Aktion verpuffte schneller als erwartet. Nach einem medialen Shitstorm ruderte rund die Hälfte der Schauspieler zurück und distanzierte sich von den eigenen Aussagen. Spätestes zu diesem Zeitpunkt gaben unzufriedene Bürger auf, ihre Hoffnung in die Künstler-Prominenz zu setzen. Für sie hatte die Kulturlandschaft auf weiter Strecke versagt. Dieser Eindruck hält sich bis heute.
In der Zwischenzeit wurde die Corona-Krise von weiteren Krisen abgelöst, doch gewisse Muster sind geblieben. Wer bei Themen wie Klima, Gender-Politik oder Ukraine-Krieg vom Mainstream abweicht, bekommt Gegenwind. Andersdenkende werden aus dem Debattenraum verbannt, sie werden beschimpft und wenn nötig existentiell vernichtet. Der autoritäre Geist feiert in Deutschland sein Comeback und durchdringt mit Riesenschritten alle Institutionen, auch die Kulturbranche. Wenn etablierte Künstler nur einmal von der herrschenden Meinung abweichen, bringen sie ihre Karriere in Gefahr. Sie werden dann nicht mehr zu Talkshows eingeladen, werden nicht interviewt und verlieren möglicherweise Verträge und Auftragsmöglichkeiten. Diese Art der subtilen Bestrafung ist heute unter dem Begriff „Cancel Culture“ bekannt. Sie schreitet derart rasend voran, dass Künstler ihren Beruf zunehmend mit einer Schere im Kopf ausüben. Es fällt geradezu auf, wie bereitwillig sie heute den Mächtigen nach dem Mund reden. Von der rebellischen Attitüde früherer Jahre ist nicht viel übriggeblieben. Anstatt die Obrigkeit in Politik und Wirtschaft für ihr Fehlverhalten zu rügen, wird gegen alle getreten, die sich nicht im Sinne offizieller Narrative äußern.
Wer der Cancel Culture zum Opfer fällt, hat keine andere Wahl, als auf die alternative Kulturszene auszuweichen. Doch diese wächst ebenso schnell. Das ist die positive Botschaft. Infolge der sozialen Verwerfungen der Krisen-Zeit haben sich in der Kulturbranche parallele Strukturen herausgebildet. Von ihnen erzählt dieses Buch. Die Alternativen in Kunst und Kultur haben zwei Seiten. Sie ergeben sich einerseits für die Künstler selbst, weil sie sich auf neue Medien, neue Kultur-Wettbewerbe oder neue Auftrittsmöglichkeiten stützen können. Andererseits ergeben sich auch Alternativen für die Rezipienten, die von der Kulturbranche erwarten, dass sie gerade in Krisen-Zeiten als Korrektiv fungiert. Diese Leerstelle füllen mittlerweile zahlreiche Newcomer und professionelle Künstler, die zuvor meist im Hintergrund agierten. Sie erheben ihre Stimme und scheuen sich nicht, unangenehme Themen anzusprechen, ob in der Musik, im Kabarett, in der Literatur oder in der bildenden Kunst. Gattungs- und genreübergreifend sind in den letzten Jahren zahlreiche Werke entstanden, die sich kritisch mit dem Zeitgeschehen auseinandersetzen und die offiziellen Narrative gegen den Strich bürsten. Formal und inhaltlich gibt es durchaus Schnittmengen, allerdings auch Abweichungen, die sich unter anderem im Ton und in den Botschaften zeigen. Manche Künstler klagen an, andere bauen Brücken. Mal spielen sie mit Humor, mal beschreiben sie die Verhältnisse in einer melancholischen Sprache. Es lassen sich experimentelle Ansätze finden, aber auch konventionelle. Die Spannbreite des künstlerischen Ausdruckswillens wächst im gleichen Tempo wie das Arsenal der Meinungswächter, die auch diese Künstler zum Schweigen bringen wollen. Wie den Schauspielern der #allesdichtmachen-Aktion bläst ihnen Gegenwind ins Gesicht. Sie werden diffamiert und bisweilen strafrechtlich verfolgt. Sie bekommen kurzfristige Auftrittsabsagen oder dürfen auf bestimmten Online-Portalen nicht ihre Werke veröffentlichen.
Entmutigen lassen sich diese Künstler aber nicht, so widrig die Arbeitsbedingungen sein mögen. Sie beweisen einen langen Atem und produzieren munter weiter, in der Hoffnung, zur gesellschaftlichen Veränderung beizutragen. In der außerparlamentarischen Opposition werden sie dafür verehrt und bewundert. So manche Künstler erfreuen sich einer treuen Fangemeinde. Sie werden häufig gebucht und gehen auf Tour. Wer schon vor Corona als freischaffender Künstler tätig war, empfindet die neuen Auftrittsbedingungen als überaus angenehm – trotz Cancel Culture. Man spielt immer noch auf Kleinbühnen und bisweilen vor einem kleineren Publikum, aber vor einem, das die gleiche Einstellung und Weltsicht teilt. Das Gemeinschaftsgefühl spornt sie an; es gibt ihnen Kraft und legt kreative Energie frei.
Außerhalb des Mainstreams lässt es sich durchaus aushalten. Das bestätigen selbst große Namen, die früher im Lampenlicht standen. Spürten sie dort den Druck vorherrschender Sprachregelungen, fühlen sie sich in der alternativen Kulturszene frei. Hier können sie ganz sie selbst sein. Sie können das sagen, was ihnen auf dem Herzen liegt. Sie können ihre Kunst selbstbestimmt ausleben, ohne sich selbst zu zensieren. So manche totgeglaubte Karriere wird wieder angekurbelt. So manche Künstler erleben einen zweiten Frühling, weil sie wieder Menschen erreichen, positives Feedback erhalten und ihre Kunst erneut lieben lernen.
Das gilt erst recht für die Newcomer, von denen nicht wenige zu ihrem einstigen Hobby zurückgefunden haben und es nun zu professionalisieren versuchen, indem sie das Potential der entstandenen alternativen Strukturen nutzen. Die Erfolgreichen unter ihnen genießen überregionale Bekanntheit. Und auch wenn sie oftmals von ihrer Kunst nur spärlich leben können, so erhalten sie Wertschätzung, die ihnen mehr bedeutet als Geld. Auf neuen Konzertreihen und Festivals treffen sie andere Künstler, Kollegen mit kritischem Geist und unangepasster Haltung, sodass im Anschluss nicht selten Kooperationsprojekte entstehen. Man vernetzt sich und inspiriert sich gegenseitig. Das kommt allen Beteiligten zugute. Wenn die alternative Kultur-Szene floriert, profitieren davon nicht nur die Veranstalter und Künstler, sondern alle Menschen aus der außerparlamentarischen Opposition. Auch sie wollen keine Kunst mehr rezipieren, die sich ausschließlich an der herrschenden Meinung orientiert. Wie in den anderen Gesellschaftsbereichen sehnen sie sich nach Vielfalt und künstlerischen Darbietungen, die aus dem Einheitsbrei hervorstechen; die überraschen und fesseln; die Gefühle wecken und zum Nachdenken bringen; die das Verbotene wagen und provozieren. Kunst ist nicht nur Unterhaltung. Sie hat auch die Gabe, Kraft zu verleihen und Trost zu spenden, gerade in so schweren Zeiten wie diesen. Die hier vorgestellten Künstler und Institutionen tun das auf ihre je eigentümliche Weise – so unermüdlich wie beherzt.

Informationen zum Buch:
Seitenzahl: 196
Preis: 21,50 €
ISBN: 9783948576110
Das Buch direkt beim Massel Verlag: https://www.masselverlag.de/The-Great-WeSet/Kunst-und-Kultur-gegen-den-Strom/